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Traditionelle Wanderschaft – Tippelei im Wandel

Wie aus einem alten Film gefallen, wirken die jungen Frauen und Männer in ungewöhnlicher Kluft aus Kord- oder derbem Stoff, wenn sie mit einem relativ kleinen Bündel und einem gewundenen Wanderstock durch die Stadt laufen. Sie sind stets mit einem großen Hosenschlag, mit Perlmuttknopf besetzter Weste sowie Jackett und – nicht zu vergessen – mit einem schwarzen Hut bekleidet, dem wichtigsten Kleidungsstück – doch dazu später mehr. Die Rede ist von Handwerksgesellen:innen auf traditioneller Wanderschaft oder auch Tippelei genannt. Eine alte Tradition, die sich seit dem Mittelalter entwickelt hat und bis heute im Wandel der Zeit und des Handwerks Bestand hat. 

Bannkreis und Zunftregeln 

Es gibt nicht viele Wandergesellen:innen, die sich momentan auf Tippelei befinden. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber die Schätzung liegt bei 500 Wandergesellen:innen. Die Pandemie hat eine der Grundvoraussetzungen für die traditionelle Wanderschaft extrem eingeschränkt. Diese besagt, dass Wandergesellen:innen auf ihrer mindestens drei Jahre und einen Tag dauernden traditionellen Wanderschaft kein Geld für Verkehrsmittel ausgeben sollen, um von A nach B zu gelangen.

Stattdessen sollen sie für weite Strecken trampen oder eben tippeln (wandern). Doch in Zeiten von Kontaktbeschränkung ist es ein fast aussichtsloses Unterfangen, den Daumen am Straßenrand rauszuhalten und darauf zu hoffen, von Fremden mitgenommen zu werden. Daher gestaltet sich die traditionelle Wanderschaft insgesamt sehr schwierig. 

Weitere Regeln besagen, dass ein/e Wandergeselle/in keine Schulden und keine Kinder haben darf, sich zünftig (vernünftig und vorbildlich) verhält und während der gesamten Tippelei unter keinen Umständen seinen sogenannten Bannkreis, einen 50 km großen Umkreis um seinen Heimatort herum, betritt. All diese Regeln klingen sehr aus der Zeit gefallen und vielleicht auch unverständlich für Außenstehende. Doch für die traditionelle Wanderschaft ergeben sie Sinn: So beruhen die drei Jahre und ein Tag auf der Ausbildungsdauer, die normalerweise in einem Handwerksberuf absolviert werden muss.

Die weiteren drei Jahre und einen Tag dauernde Tippelei war in früheren Jahrhunderten dazu gedacht, genügend unterschiedliche Arbeitserfahrung außerhalb des Lehrbetriebs zu sammeln. Durch die traditionelle Wanderschaft wurde auch eine Bedingung für die spätere Ausbildung zum Meister erfüllt. Daraus leitet sich eine weitere Regel ab die Tippelei mit nur fünf Euro in der Tasche zu starten und auch nur mit fünf Euro wieder nach Hause zu kommen. Denn die traditionelle Wanderschaft ist nicht dazu gedacht, sich finanziell zu bereichern, sondern viel mehr dient sie dazu in den unterschiedlichen Handwerksbetrieben dazuzulernen, da regional bedingt durchaus andere Techniken angewendet werden können. 

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Nathalie fremde freireisende Wandergesellin.
Bild: Copyright Nathalie Pfeiffer

Handwerksberufe und Ortsschild 

Wenigen ist die Tatsache bekannt, dass sämtliche Handwerksberufe auf traditionelle Wanderschaft gehen können: von Vergoldern:innen, Schmieden:innen über Konditoren:innen bis hin zu Töpfer:innen, Schneider:innen und vielen weiteren Berufszweigen, die bereits im Mittelalter existierten. Selbst mir war dies nicht bewusst, als ich als Auszubildende im zweiten Lehrjahr auf der Weihnachtsfeier meines Tischlereiausbildungsbetriebs das erste Mal auf Wandergesellen traf.

Zwei verschneite Gesellen kamen zu später Stunde in das Restaurant herein, um sich aufzuwärmen, nach einem “Taler” Unterstützung zu fragen und vielleicht eine Platte (Übernachtungsmöglichkeit) für die kalte Dezembernacht klarzumachen. Nachdem mein Meister sie zu unserem Tisch einlud, erfuhr ich zum ersten Mal, dass es nicht nur die schwarz gekleideten Zimmerer sind, die auf Tippelei gehen. Schon immer sind es alle möglichen Gewerke und, für mich damals eine Offenbarung, auch längst schon Handwerkerinnen, die diese Tradition hochhalten. 

Eineinhalb Lehrjahre und eineinhalb Gesellenjahre später stand ich dann an einem Februartag am Ortsschild meines Heimatortes. Auf der Stadtseite waren meine Familie und Freunde zusammengekommen, um mich zu verabschieden. Auf der anderen Seite des Ortsschildes standen rund zwei Dutzend Wandergesellen:innen bereit, um mich in ihren Reihen aufzunehmen und in die Bräuche und Lebensweise eines Wandergesellen einzuführen.

Offline und Stadtwappen 

Die traditionelle Wanderschaft umgibt weiterhin ein Hauch von Mythos. Zu irreal ist die Vorstellung, für die Zeit der Tippelei auf den Besitz eines Smartphones oder Tablets zu verzichten. Aber gerade durch diese ganzen altmodischen Vorgaben und Richtlinien funktioniert die traditionelle Wanderschaft. Damals wie heute ist der erste Gang, wenn ein/e Wandergeselle/ Wandergesellin in einer Stadt Arbeit suchen möchte, der Gang zum Rathaus. Dort wird mit einem mündlich überlieferten Spruch bei den Vertretern der Stadt vorgesprochen.

Anschließend wird mit dem Stempel des Stadtwappens im Wanderbuch des Gesells/der Gesellin besiegelt, dass dieser/diese sich Arbeit in der Stadt suchen darf – heutzutage eher ein Ritual, aber zu mittelalterlichen Zeiten eine wichtige Formalie, da nur mit dem Stempel die Erlaubnis bestand, in der Stadt zu bleiben. Denn damals konnte nicht immer für ausreichend Lohn und Brot der Bevölkerung gesorgt werden und somit waren auch nicht immer zureisende Handwerksgesellen auf Tippelei erwünscht. 

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Handwerksspruch in einer Handwerkskammer.
Bild: Copyright Nathalie Pfeiffer

Kost und Logis 

Mit dem Stadtstempel im allerheiligsten Wanderbuch darf dann auf Arbeitssuche gegangen werden. Dabei werden sämtliche Betriebe des eigenen Gewerks zu Fuß abgeklappert und mit einem ebenso mündlich überlieferten Spruch nach Arbeit gegen Kost und Logis gebeten werden. An dieser Stelle setzt aber der Wandel oder besser die Einhaltung der Arbeitsgesetze ein. Denn anders als früher arbeiten Wandergesellen nicht mehr nur gegen Kost und Logis (Verpflegung und Unterkunft), sondern werden durchaus ganz regulär angestellt.

Ausnahme bilden dabei die Arbeit an gemeinnützigen Projekten, zu denen sich oft ganze Gruppen von Wandergesellen zusammenfinden. Nach Vollendung der Arbeit hinterlässt der Arbeitgeber in dem Wanderbuch einen Arbeitsschnack (Arbeitszeugnis). Daher dient das Wanderbuch nicht nur zur Dokumentation der Aufenthaltsorte während der traditionellen Wanderschaft, sondern auch als späterer Nachweis für die Meisterschule. Demzufolge wird das Wanderbuch seit jeher besonders geschützt am Körper getragen und niemals länger aus der Hand gegeben. 

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Reduzieren auf das Wesentliche und Notwendige – Reisebündel (genannt Charly’s)
von Wandergesellen. Bild: Copyright Nathalie Pfeiffer 

Der schwarze Hut 

Es gibt noch etliche weitere für Tippelei gültige Bräuche, die ein ganzes Buch füllen könnten. Aber auch darin spiegelt sich die traditionelle Wanderschaft wider: Alles, was ein/e Wandergeselle/Wandergesellin für die Tippelei wissen muss, wird mündlich überliefert. Damit ist u.a. die von Wandergesellen genutzte Sprache Rotwelsch (um sich untereinander geheim absprechen zu können) genauso miteingeschlossen, wie der Spruch für die Stadtvertreter:innen und für die Meister:innen.

Aber der Hintergrund zum schwarzen Hut ist eine Überlieferung, die allgemein bekannt ist: Zu früheren Zeiten war es nur den freien Menschen, also nicht Leibeigenen, vorbehalten, einen Hut tragen zu dürfen. Und genau das sind Wandergesellen/ Wandergesellinnen damals wie heute immer noch – freie und unabhängige Handwerksgesellen:innen auf Reise durch Land, Kontinent und der ganzen Welt mit dem Ziel, auf Tippelei persönlich, aber auch in ihrem Handwerk zu lernen und zu wachsen. 

Von Februar 2006 bis Mai 2009 war ich als freireisende Bautischlerin auf traditioneller Wanderschaft. Während der Tippelei lernte ich viele eindrucksvolle Orte und aufgeschlossene Handwerksbetriebe in Deutschland kennen, bereiste und arbeitete in Spanien, Portugal, Rumänien, Schweiz, Österreich, Costa Rica, Guatemala und sogar in Japan. Bis heute schöpfe ich aus den Erfahrungen meiner traditionellen Wanderschaft in handwerklicher Hinsicht, aber auch von den Menschen, die ich kennengelernt habe und profitiere beruflich als auch privat von einem guten Netzwerk mit ehemaligen Wandergesellen. 

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