Erst kürzlich haben wir uns auf unserem Blog mit dem Thema “Klimaschutz in Städten” beschäftigt. Grund genug für uns, einmal unsere Nase über den deutschen Tellerrand hinweg zu bewegen. Hängengeblieben sind wir an “The Line”, einem nachhaltigen Städteprojekt in Saudi-Arabien, das sich mehr nach einem Märchen aus 1001 Nacht anhört als nach einem realistischen Projekt: Das arabische Land plant eine 170 Kilometer lange, komplett vernetzte, autofreie Stadt. Und das mitten in der Wüste. Diese futuristische Stadt verspricht, die Lebensqualität durch künstliche Intelligenz, Nachhaltigkeit und eine effiziente Infrastruktur zu verbessern.
Inhaltsverzeichnis
- Warum beschäftigt sich Saudi-Arabien gerade jetzt mit solchen Projekten?
- Was genau ist „The Line“
- Was ist NEOM?
- Ist die Umsetzung von “The Line” überhaupt realistisch?
- Einordnung und Vergleich von “The Line” mit anderen internationalen Bauprojekten
- Einfluss auf die Umwelt und die Lebensqualität der Bewohner
- Größenwahn oder realistische Zukunft – unser Fazit
Ob “The Line” als realistisches Zukunftsprojekt oder aber als Utopie zu betrachten ist, wird kontrovers diskutiert. Einerseits könnte diese Stadt ein revolutionäres Modell für urbane Entwicklung darstellen, andererseits bezweifeln Kritiker:innen die Umsetzbarkeit eines solch komplexen, ambitionierten und kostenintensiven Vorhabens. Kürzlich angekündigte Anpassungen scheinen kritische Meinungen eher zu unterstützen: Ursprünglich sollte „The Line“ 170 Kilometer lang werden. Nun ist geplant, bis 2030 zunächst nur 2,5 Kilometer der Stadt zu bauen. Finanzielle und logistische Herausforderungen sollen zu dieser Anpassung geführt haben.
Wir finden das Projekt zumindest beachtenswert und haben deshalb einmal das aus unserer Sicht Wissenswerte über “The Line” für Sie zusammengestellt.
Warum beschäftigt sich Saudi-Arabien gerade jetzt mit solchen Projekten?
Gleich zu Anfang drängt sich natürlich die Frage auf: Warum will Saudi-Arabien mit solchen Projekten wie “The Line” weltweit auf sich aufmerksam machen? Reicht es nicht, dass dort 2029 die Asiatischen Winterspiele mitten in der Wüste stattfinden, 2034 die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer ausgetragen wird oder Frauen inzwischen ganz offiziell Auto fahren dürfen (!)?
Diese und viele andere Maßnahmen zielen darauf ab, dass Image des an sich so verschlossenen Landes international zu verbessern. Damit sollen nicht nur Touristen, sondern auch ausländische Investitionen ins Land gebracht werden. Schließlich wird in Saudi-Arabien (und anderen arabischen Ländern) das Erdöl nicht ewig sprudeln.
Und genau für diese “Post-Erdöl-Zeit” rüstet sich das Königreich, das zwischen Rotem Meer und Persischen Golf liegt. Das alles ist Teil der sogenannten Vision 2030, einer umfassenden Reformagenda aus dem saudischen Königshaus, die wirtschaftliche Diversifizierung, soziale Entwicklung und Modernisierung fördert. Der ARD-Weltspiegel hat dazu eine sehr interessante Reportage gebracht, die eine gute Übersicht zu den Reformen von Kronprinz Mohammed bin Salman al Saud bringt.
Was genau ist „The Line“
“The Line” wird in der Region Tabuk im Nordwesten Saudi-Arabiens gebaut. Das Projekt ist Teil von NEOM, einem 500 Milliarden US-Dollar schweren Megaprojekt, das von Kronprinz Mohammed bin Salman initiiert wurde. NEOM soll eine neue, hochmoderne Region werden, die sich über 26.500 Quadratkilometer erstreckt und eine ganze Reihe unterschiedlicher Projekte beherbergen soll – darunter das ambitionierte Projekt “The Line”.
Dabei handelt sich um eine rund 170 Kilometer lange und etwa 200 Meter breite Stadt, die – zumindest auf den Foto-Renderings – eine starke Ähnlichkeit mit einem Lineal hat. Sie soll vom Roten Meer in die Wüste führen und einmal neun Millionen Menschen beherbergen, die in 1.000 Hochhäusern leben, deren Außenwände aus verspiegelten Glaswänden bestehen. In dieser Stadt der Zukunft wird es keine traditionellen Straßen, Autos oder Emissionen mehr geben, und es wird ausschließlich mit erneuerbaren Energien gearbeitet. Ziel ist es, damit eine nachhaltige und zukunftsfähige Lebensweise zu fördern, die im Einklang mit der Natur steht.
Der Bau von “The Line” begann im Jahr 2021 und die erste Phase soll bis 2030 abgeschlossen sein. Es ist jedoch ein langfristiges Projekt, das in mehreren Phasen über mehrere Jahrzehnte hinweg entwickelt wird. Anfang 2024 wurde jedoch bekannt, dass zunächst nur 2,5 Kilometer dieser neuartigen Mega-City gebaut werden (da wurde die Länge ja nur geringfügig reduziert … 😉 …). Finanzielle und logistische Herausforderungen hätten zu dieser Anpassung geführt, doch die langfristigen Pläne für die gesamte Länge blieben bestehen.
Was ist NEOM?
Das NEOM-Projekt umfasst auf mehr als 26.000 Quadratkilometern neben der bereits erwähnten Stadt „The Line“ auch NEOM Bay, wo bereits 2019 ein Flughafen eröffnet wurde, und die Stadt Trojena, die bis 2026 auf einer Höhe von 1.500 bis 2.600 Metern über dem Meeresspiegel entstehen soll. Trojena erhielt im Oktober 2022 den Zuschlag für die Winter-Asienspiele 2029. In NEOM Bay wird zudem Sindalah entwickelt, eine Luxusinsel mit Yacht-Club und Premium-Hotelzimmern, die den Tourismus in Saudi-Arabien fördern soll.
Ist die Umsetzung von “The Line” überhaupt realistisch?
Obwohl “The Line” als wegweisend und zukunftsorientiert gilt, stellen sich viele Fragen hinsichtlich der Realisierbarkeit, Kosten und Auswirkungen auf die Umwelt und Gesellschaft. So gibt es beispielsweise erhebliche Kritik an den sozialen und städtebaulichen Aspekten des Projekts. Die Zwangsumsiedlung von Einheimischen und die Arbeitsbedingungen stehen dabei besonders im Fokus.
Natürlich verfügt Saudi-Arabien über erhebliche finanzielle Ressourcen und hat sich bereits in anderen groß angelegten Infrastrukturprojekten als fähig erwiesen. Andererseits sind die technologischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen enorm. Die Vorstellung einer Stadt ohne Autos und Straßen ist revolutionär, erfordert aber auch ein hohes Maß an technologischen Innovationen und ein Umdenken in Bezug auf Stadtplanung und Infrastruktur. Ob das mit dem aktuellen Stand der Technik und vielleicht auch des Wissens so einfach möglich und damit auch umsetzbar ist, bleibt abzuwarten.
Ein weiteres Hindernis könnte die geopolitische Lage und die Stabilität der Region sein. Politische Unsicherheiten und wirtschaftliche Schwankungen könnten das Projekt beeinflussen. Auch die Transparenz des Projekts ist ein weiterer Punkt, der häufig hinterfragt wird. Informationen über Finanzierung, Planungsprozesse und die Einbindung lokaler Gemeinschaften bleiben vage, was Misstrauen schürt.
Zudem stehen die Menschenrechte im Fokus der Kritik. Saudi-Arabien steht international wegen seiner Menschenrechtslage in der Kritik, und es gibt Zweifel, ob die Arbeitsbedingungen beim Bau von “The Line” den internationalen Standards entsprechen werden.
Einordnung und Vergleich von “The Line” mit anderen internationalen Bauprojekten
„The Line“ hebt sich durch seinen radikalen Ansatz ab, eine vollständig nachhaltige Stadt ohne traditionelle Verkehrswege zu schaffen. Im Vergleich zu anderen Projekten, die internationales Interesse hervorrufen, wie beispielsweise dem Beijing Daxing International Airport (China) oder der Chuo Shinkansen (Japan), liegt der Fokus bei „The Line“ stärker auf der urbanen Lebensqualität und ökologischen Nachhaltigkeit. Projekte wie Dubai World Central und Silk City (Kuwait) teilen den visionären und groß angelegten Ansatz, doch „The Line“ will neue Maßstäbe in Sachen Nachhaltigkeit und technologischer Integration setzen – zumindest, wenn die ambitionierten und futuristischen Pläne tatsächlich (irgendwann) umgesetzt werden.
Beijing Daxing International Airport (China)
- Beschreibung: Einer der größten Flughäfen der Welt, entworfen, um bis zu 100 Millionen Passagiere jährlich zu bewältigen.
- Besonderheiten: Innovatives Sternförmiges Design, hohe Kapazität.
- Fertigstellung: 2019
Dubai World Central/Al Maktoum International Airport (Vereinigte Arabische Emirate)
- Beschreibung: Geplant als größter Flughafen der Welt, mit Kapazitäten für 160 Millionen Passagiere jährlich.
- Besonderheiten: Teil eines umfassenden Handels- und Logistikzentrums.
- Fertigstellung: Endphase bis 2030
Chuo Shinkansen (Japan)
- Beschreibung: Eine Magnetschwebebahnstrecke zwischen Tokio und Nagoya, die die Reisezeit erheblich verkürzt.
- Besonderheiten: Nutzung von Magnetschwebetechnologie für Hochgeschwindigkeitsverkehr.
- Fertigstellung: Geplant für 2027
Silk City (Kuwait)
- Beschreibung: Eine neue Stadtentwicklung mit dem 1.001 Meter hohen Burj Mubarak Al Kabir, das zukünftige Handelszentrum der Region.
- Besonderheiten: Groß angelegtes urbanes Entwicklungsprojekt.
- Fertigstellung: voraussichtlich 2035
Einfluss auf die Umwelt und die Lebensqualität der Bewohner
“The Line” in Saudi-Arabien ist ein ehrgeiziges Projekt, das verspricht, Umwelteinflüsse zu minimieren und gleichzeitig die Lebensqualität der Bewohner zu erhöhen. Die Planer:innen betonen, dass diese Stadt der Zukunft in die Natur integriert wird, ohne die natürlichen Ökosysteme zu stören. Außerdem sollen innovative Technologien dazu beitragen, dass Abfall und Emissionen nahezu null sind.
Die Bewohnerinnen und Bewohner, die irgendwann in die High-Tech-Hochhäuser einziehen, sollen eine “bisher nie dagewesene Work-Life-Balance” erleben können – alle wichtigen Services (also wohl auch Einkaufsmöglichkeiten, Schulen, Kindergärten, Sporteinrichtungen, Ärzte und vieles andere) sollen für jeden angeblich innerhalb von fünf Minuten erreichbar sein. Hmm ja, allein dazu reicht die Vorstellungskraft unserer Redaktion nicht ganz so aus. Obwohl: “Beam me up, Scottie!” könnte das Schlagwort der Zukunft sein. Vielleicht werden die Visionen des Raumschiff Enterprise aus dem letzten Jahrtausend in diesem Jahrtausend mit “The Line” ja wahr …
Klar muss jedoch auch sein, dass – sollte dieses futuristische Projekt tatsächlich Realität werden – die Auswirkungen auf die regionale Bevölkerung und die Umwelt heute überhaupt noch nicht klar sind.
Größenwahn oder realistische Zukunft – unser Fazit
Ob “The Line” als Größenwahn oder realistische Zukunftsvision zu betrachten ist, wird vermutlich noch lange kontrovers diskutiert werden. Einerseits könnte diese Stadt ein revolutionäres Modell für urbane Entwicklung darstellen, andererseits bezweifeln Kritiker:innen die Umsetzbarkeit eines solch komplexen Vorhabens. Mal abgesehen von den Kosten umfassen die Herausforderungen neben technologischen Durchbrüchen (die erst noch gemacht werden müssen) und der umzusetzenden Nachhaltigkeit auch die sozioökonomische Integration in die Region.
Der Erfolg von “The Line” wird davon abhängen, wie diese Herausforderungen gemeistert werden. Wird “The Line” tatsächlich realisiert – auch wenn es von ursprünglich 170 geplanten Kilometer im Moment nur noch 2,5 Kilometer sind – ist dies sicherlich ein mutiger Schritt hin zu einer ganz neuen Art der Städtebauplanung, die eine Vorreiterrolle für ähnliche Projekte auf der ganzen Welt übernehmen könnte. Warten wir’s einfach mal ab.